Versilberte ZEIT …

beim Stöbern durch das Archiv des Magazins brandeins (auf der Suche nach etwas ganz Anderem) bin ich auf einen Artikel von Roman Pletter über den wunderbaren Silberschmied Wilfried Moll gestoßen.

Ein Artikel über Handwerkskunst im wahrsten Sinn und den Einsatz der Zeit in diesem Zusammenhang…
Ich weiß, ein sehr langer Text, aber sehr lohnend und in der Ferienzeit finden Sie sicher Zeit dafür…

Wilfried Moll, Kugelkanne, Silber, handgeschmiedet. Fotocopyright: Felix Jud

Wilfried Moll, Kugelkanne, Silber, handgeschmiedet.
Fotocopyright: Felix Jud

„Versilberte Zeit

Vor dem Besuch in der Werkstatt des Silberschmieds Wilfried Moll gab es eine Vereinbarung. „Muss denn in der Geschichte stehen, wo ich arbeite?“, fragte er am Telefon ein wenig schüchtern. Für ein Porträt, war die Antwort, sei das vielleicht hilfreich. „Wissen Sie, das hier ist ein bisschen meine Einsiedelei“, gab er zu bedenken. Er sei dort ganz allein, niemand komme und störe ihn. Vielleicht eine kleine Andeutung, nichts Bestimmtes, damit sich die Leser etwas vorstellen können? „Hm, und wenn dann Leute anfangen zu suchen?“, fragte Moll besorgt.

So soll also nicht mehr verraten werden, als dass der Silberschmied eine kleine Einsiedelei am Meer hat. Und dass er nicht möchte, dass ihn dort jemand findet, um ihm über die Schulter zu schauen, sagt wohl ohnehin mehr über ihn aus als der Name des Städtchens.

Ein paar Tage später huscht der 67-Jährige belustigt aus dem Nebenraum, wo er gerade ein Telefonat mit einem Kunden beendet hat, zurück in sein Zimmer, das eine Mischung ist aus Verkaufsraum und Wohnzimmer. Während er in einen Sessel fällt, fängt er an zu lachen und sich dabei die Hände zu reiben. Es ist ein glucksendes, kicherndes Lachen wie das eines Kindes, das sich über einen albernen Streich amüsiert.

Er sagt: „Die haben eine Deadline.“

Silberkannen sind manchmal wie kleine Zicken. Dann muss der Schmied sie eifersüchtig machen

Was für ein Wort. Es platzt förmlich in diesen stillen Raum, in dem doch alles darauf angelegt ist, der Zeitmessung keine Chance zu geben. Der Rollladen zur Straße hin ist heruntergelassen. Nur hinter einer Ecke hängt, beinahe versteckt, eine Uhr. Das ganze Städtchen, in das sich Wilfried Moll aus Hamburg unter der Woche verkriecht, ist ein Ort, zu dem Deadlines nicht passen, in dem überall Rentner sitzen und Kuchen essen. Es ist ein Ort, in dem jeder Wochentag wie Sonntag ist.

In einer hektischen Umgebung könnte der Silberschmied seine Arbeit nicht machen. Moll sagt: „Sie müssen dem glücklichen Zufall eine Chance geben, dass er passieren kann. Ich glaube: Es gibt keine verlorene Zeit.“

Wilfried Moll ist einer der Letzten seiner Art. Es gibt vielleicht noch 80 Silberschmiede in Deutschland. Von Jahr zu Jahr zählt ihr Zentralverband weniger Mitglieder, die sakrale Symbole wie Kreuze und Monstranzen, aber auch Tabletts und Bestecke von Hand fertigen und ihnen die Anmutung kleiner Kunstwerke verleihen. Menschen wie er, die 200 Stunden an einer Teekanne arbeiten, wirken wie aus der Zeit gefallen, seit die Industrie in kurzer Zeit schöne Dinge herstellen kann. Man könnte erwarten, dass ihm das Sorgen macht, dass er sich, um in dieser Welt zu überleben, Termine setzt, zu denen seine Stücke fertig sein müssen. Doch er kann mit dieser Arbeit nur leben, weil er sich nicht drängen lässt. Ein Mann wie er braucht seine eigene Zeitrechnung.

Der Silberschmied lebt zurückgezogen zwischen seinen Werkzeugen, Bauhaus- und Hölderlin-Büchern und fertigen wie unfertigen Kannen, Zuckerdosen, Tabletts und Schmuckstücken. Wenn er sie in die Hand nimmt und zeigt, warum sie sich von diesem und jenem Werk unterscheiden und was aus ihnen werden könnte, senkt er die Stimme, so als hätte er Angst, seine Arbeiten aufzuwecken oder zu verärgern. Er muss sich gut stellen mit ihnen. Sie wollen nicht immer wie er. Manchmal sind Kannen kleine Zicken, die Sprünge bekommen, bevor er sie polieren möchte.

Moll hält ein rundes, flaches Stück Silber in Händen, aus dem eine Kugelkanne werden soll. Er wird mit einem Zirkel einen Kreis darauf beschreiben, die Fläche, auf der die Kanne stehen wird. Dann wird er über einem Holz, das sein Amboss ist, mit kräftigen Hammerschlägen das Silber um den Kreis nach oben treiben, sodass es aussieht wie eine weite und offene Schüssel mit gewelltem Rand. Er wird es unter Feuer aufweichen, abkühlen lassen und wieder mit aller Kraft dagegenschlagen, tagelang wird das so gehen. Wenn seine Frau Gerda, die Goldschmiedin ist, das macht, kann sie eine Zeit lang nicht mehr an ihrem Schmuck arbeiten. Sie sagt, ihr zittere der Arm, und die Feinmotorik setze aus.

Wenn die Kanne dann endlich gerundet ist, wird Moll ein Hämmerchen greifen und das Silber planieren. Er wird sich, unten beginnend, Reihe um Reihe, Zentimeter um Zentimeter, klackplonk-klackplonk, nach oben arbeiten und aufs Neue von unten anfangen. Sollte seine Frau in die Werkstatt rufen, dass das Essen fertig sei, wird er es nicht wahrnehmen, und sie wird sich nicht mehr ärgern, wenn er später strahlend kommen und fragen wird, ob sie Hunger habe. Er wird der Kanne einen Schnabel ansetzen, ihn anlöten, vielleicht wieder absägen, bis er die richtige Form hat. Er wird in das Gartenhäuschen gehen an ein grünes, nach oben zulaufendes Gestell. Es hält eine Achse, die ein Motor ungeheuer schnell drehen kann. An den Enden der Achse rotieren Bürsten. Dort wird Moll über Stunden und Tage stehen und seine Kanne polieren, und danach wird er aus dem Häuschen kommen und, wie seine Frau sagt, aussehen wie aus dem Stummfilm. Sein Gesicht und die struppigen grauen Brauen werden schwarz sein vom Staub, und er wird von Hand mit Bimsstein und Schleifpapier weiterpolieren.

Vielleicht muss er die Kanne dann wie so oft eifersüchtig machen mit Zweitfassungen, die er nach erneuten Wochen des Hämmerns neben sie stellen kann. Wie eifersüchtige Rivalinnen schieben sich in diesen Momenten die neuen Kannen in der Vitrine in Molls Werkstatt vor die alte Fassung, manchmal drei Millimeter höher, mit einem kühneren und spitzeren Schnabel. Wenn sie dann halbfertig und unpoliert dastehen, Tage, Wochen, sehen sie aus, als unterhielten sie sich miteinander. Und wenn, wie an diesem Tag, ein Besucher kommt, öffnet Moll die Vitrine, holt behutsam zunächst das eine der dort wartenden Kännchen heraus, dann das andere, setzt dem einen einen Testschnabel aus Knetmasse an, betrachtet es wie eine junge Frau, die ihm gefällt, dann dem anderen, und behutsam, wie er sie herausgenommen hat, stellt er die beiden zurück. Er braucht noch Zeit, in der nichts weiter geschieht. Er hat sich noch nicht entschieden.

8000 Euro für eine Teekanne, das klingt nach einem stattlichen Preis, nach neureichen Menschen und Königshäusern. Aber für Wilfried Moll bedeutet solch eine Kanne 200 Arbeitsstunden. Eigentlich bedeutet sie viel mehr: „Wenn Sie jetzt im Alter etwas machen, dann ist das auch die Summe Ihres Lebens“, sagt er. All die Zeit, die Moll auf den Zufall gewartet hat, fließt nun in die Arbeit ein. Er betrachtet eine Kugelkanne mit nach oben gezogenem Griff und keckem Schnabel und sagt: „Ich bin in den vergangenen Jahren immer kühner geworden.“ Es klingt, als wolle er sich für seine Maßlosigkeit entschuldigen, für diese drei Millimeter, die der Schnabel länger geworden ist, als es sich für eine zurückhaltende Silberkanne ziemt. Selbstvergessen begutachtet er die strenge Form. Es sieht so aus, als würde er auf jeden Fall wieder sündigen.

Molls Frau Gerda, die zusammen mit ihm vor mehr als 40 Jahren den Beruf des Goldschmieds erlernt hat, führt ein paar Tage später in ihrer eigenen Werkstatt in Hamburg lächelnd zwei Fingerspitzen in der Luft zusammen und sagt: „Damals hat er immer so kleine Simse gemacht.“ Molls Kännchen in den sechziger Jahren hatten kleine Ränder, wenige Millimeter breit, und doch machten sie die Kannen für das Auge viel schwerer, als sie es heute sind. „Das klingt vielleicht banal“, sagt seine Frau. „Aber man hat manchmal viele Jahre lang ein Brett vor dem Kopf, und auf einmal sieht man, dass etwas durch eine kleine Veränderung viel besser wird.“

Natürlich können auch Maschinen wunderbare Stücke produzieren. Aber ihnen fehlt die Seele

Wie seine Kollegen stanzt Wilfried Moll in jedes Kännchen, jeden Löffel, jede Gabel sein Zeichen. Moll unterscheidet sich dennoch von vielen anderen Silberschmieden. Es gibt ein paar seiner Ideen auch ohne sein Signum, in tausendfacher Ausfertigung. Die Flensburger Silbermanufaktur Robbe & Berking ließ von ihm zwei Besteck-Sets entwerfen, ein paar Becher, Kannen und Kännchen, nun von großen Werkzeugen gepresst. Ein solches Werkzeug kostet mehr als ein Original aus Molls Werkstatt. So haben es die kleinen Kunstwerke in die große, weite Welt hinaus geschafft. Im Restaurant des Museum of Modern Art in New York speisen die Gäste mit Molls Besteck, das dennoch kein Original ist.

Es ist nicht nur die unmittelbare Umsetzung der Idee, die das Original vom Industrieprodukt unterscheidet. Es ist vor allem das vertrackte Verhältnis zwischen Handwerker und Produkt, das den Unterschied ausmacht und das sich nur über die Zeit entwickelt, über die miteinander gewonnene und vertrödelte, aber niemals verlorene Zeit. Die Maschine saugt eine Silberplatte ein. Sie verdaut sie mit einem Schmatzen und spuckt, zischpling, ein Tablett aus. Bei Moll sind es Tausende dumpf klirrende, zunächst laute und später leise Klackplonks, die das Tablett der Idee des Handwerkers näher bringen. Mit jedem kleinen Hammerschlag wird ihm das Stück ein bisschen teurer, und manchmal gebiert ein Klackplonk, das danebengeht und nicht so präzise ist wie ein Zischpling, eine neue Idee, und aus der Korrektur eines Fehlers entsteht etwas in des Schmieds Augen Schöneres und Vollkommeneres. Dann hatte der glückliche Zufall eine Chance.

In seiner Werkstatt mit Pressen und Werkbänken, in der kein Staub und keine Unordnung herrschen, weil ein kleines Staubkörnchen sich ins Silber fressen und die Arbeit von Wochen zunichte machen könnte, zieht der Meister ein von Säure oxydiertes Metall aus einer Ecke, es sieht aus wie ein verwittertes Tablett. Er sucht zwischen akkurat in eine Fassung gehängten Hämmerchen nach dem richtigen Utensil. Sie klimpern dabei wie die Stäbchen eines Xylophons.

Moll legt das unfertige Tablett auf eine Art kleinen Amboss, hämmert ein bisschen daran herum, lauscht den klirrend dumpfen Geräuschen, wie ein Arzt, der mit dem Stethoskop seinen Patienten abhorcht, klackplonk, klackplonk, und legt es wieder auf die Seite. Vor Kurzem rief ihn der Kunde an, der das Stück kaufen möchte. Er habe ihn gefragt, ob es noch lang dauern würde. Er sei ein geduldiger Kunde. Seit einem Jahr gehe das so. Moll legt das Tablett auf das Fensterbrett und drückt auf einer Seite mit der Hand darauf. Es wackelt ein bisschen, man merkt es kaum. Doch er ist nicht zufrieden. Plan muss es sein, eben wie eine Wasseroberfläche. Er schaut es ratlos an, als wolle er fragen: Was mache ich nur mit dir? Aber es hat keinen Sinn, das jetzt in Angriff zu nehmen. Er braucht Zeit dafür. Noch ist der glückliche Zufall, Einfall, nicht gekommen.

Rüdiger Joppien, der Kustos ist am Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe und mit Hingabe von Molls Werken erzählen kann, sagt: „Silberschmied zu sein, das ist wie Opern zu singen. Man erarbeitet sich ein Repertoire. Die Stücke sind immer auch Ergebnisse des bisherigen Arbeitslebens. Ein Tablett aus einem einzigen Stück Silber zu treiben, das ist die allerhöchste Kunst.“ Joppien klingt aber auch ein bisschen traurig. Kaum noch ein junger Mensch erlerne den Beruf, weil kaum mehr einer davon leben könne. Der Kustos versucht, Werke von Silberschmieden für sein Museum zu kaufen, denn solange es Käufer gibt, gehen die über Generationen vererbten und bei den Schmieden gereiften Fertigkeiten nicht verloren. Joppien kauft nicht nur Kannen, er kauft auch versilberte Zeit.

Beim Frühstück gießt Wilfried Moll Tee aus einer Silberkanne in die Tässchen. Er hatte sie in den siebziger Jahren für seine Mutter geschmiedet, und nach deren Tod holte er sie sich zurück. Man muss an E. T. A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi denken und an den Goldschmied René Cardillac, der Kunden ermordete, um seine Stücke wiederzubekommen, und daran, dass solch eine Werkstatt ein Gefühl dafür vermittelt, dass ein Original sie für immer verlässt, zusammen mit den vielen Stunden, die es mit dem Schmied verbracht hat. Manche Leute, die sich das leisten können, sind vielleicht reich geworden, weil sie in der Zischpling-Welt erfolgreich waren. Molls Stundenlohn ist vergleichsweise lächerlich. Es ist dann mit dem Stück wie mit einer von vielen Bewunderern Angehimmelten, die zu dem Mann mit dem Geld geht. Manche Kunden aber, sagt Gerda Moll, sparten lange auf ein Gerät und freuten sich schon monatelang vorher auf die Übergabe.

Die alte Kanne blitzt unter fahlem Licht, doch wer genau hinschaut, kann feinste Spuren darauf entdecken, dünner als Härchen, die ihr einen matten Schein geben. Moll sagt, dass jeder Silberschmied seine eigene Art, seinen eigenen Glanz habe, Stücke zu polieren. Die kleinen Spuren, die Moll Kratzer nennt, erzählen von der Art, in der ein Schmied seine Geschöpfe mit Schleifpapier streichelt, sie erzählen von der Zeit mit ihm. „Wir Silberschmiede sprechen etwas verächtlich vom Industrieglanz, wenn es um Massenprodukte geht“, sagt Moll und lacht etwas verhalten, weil in einer Vitrine hinter ihm seine Besteckteile und seine Kanne aus den Pressen der Manufaktur stehen. Sie sind seine Ideen. Sie sind sehr schön anzusehen. Sie sind große Kunst. Aber sie sind makellos. Für die Kunden ist das schön, für den Handwerker bedeutet es, dass sie sich nicht wie Originale mit jedem Klackplonk, mit Narben, Hornhaut, Verletzungen in seine Hände hineingegraben haben. Moll hat nicht mit ihnen auf den richtigen Moment gewartet.

Als jener Anruf mit der Deadline kam, ging es um ein Besteck. Näheres soll nicht verraten werden. Denn Wilfried Moll hatte bei der Verabredung zum Interview gesagt, er brauche einen ganzen Tag, um die Sachen, an denen er gerade arbeite, wegzuräumen. Schließlich, sagte er, sei das ein Auftrag, und man müsse da korrekt sein und dürfe das niemandem zeigen. Es klang sehr pflichtbewusst. Es dauerte wohl einen Tag lang, die Entwürfe verschwinden zu lassen, weil er sie bestimmt Stück für Stück in Sicherheit gebracht hat. Vielleicht hat er ein paar Mal nicht widerstehen können und, klackplonk, sanft auf eine Unebenheit gehämmert. Vielleicht grinste er sogar ein bisschen dabei. Auf jeden Fall wird er sich in seiner Einsiedelei auch bei diesem Besteck die nötige Zeit nehmen. Denn Deadlines sind für glückliche Momente tödlich. “

(Textcopyright, brandeins 03/2008)

Wie viele Fixpunkt, die gutes Kunsthandwerk ausmachen, werden hier im Vorbeigehen angesprochen.
Ein toller Text über einen der großen deutschen Silberschmiede und im Zusammenhang meine momentanen Schmuckausstellung nicht ohne Hintersinn;)